Prinzipien der Bibelauslegung

Jeder Mensch, der ein literarisches Werk, wie in unserem Falle die Bibel, interpretiert, geht mit einem Vor-Urteil an den Text heran. Es gibt keine neutrale Textinterpretation; das eigene Weltbild, die eigene Philosophie, die eigenen Glaubensüberzeugungen spielen immer in das Verständnis der Texte hinein. Dieser Umstand ist nicht zu umgehen, aber, und das ist das Entscheidende, er muss uns bewusst sein und er muss auch bewusst kommuniziert werden.

Die Frage nach den Kriterien für die Auslegung der Bibel („Hermeneutik“) ist für die Arbeit von ProGenesis natürlich von entscheidender Bedeutung. Unsere Prinzipien, nach der wir die biblischen Texte interpretieren und verstehen, sollen daher an dieser Stelle erläutert werden.

Wenn wir uns auf die Suche nach Kriterien zur Interpretation eines Textes machen, so ist es am logischsten, zuerst einmal im entsprechenden Text selber nach diesen Kriterien zu suchen. Möglicherweise gibt er sie uns ja vor, weil der Verfasser des Textes sicherstellen wollte, dass man ihn richtig versteht. Bei einem kurzen Gedicht ist das ziemlich unwahrscheinlich, aber bei einem so umfangreichen Werk wie der Bibel ist es geradezu zu erwarten, dass man darin solche Hinweise findet.

Und tatsächlich findet man eine Reihe solcher Aussagen in der Bibel, die uns Leitlinien zu ihrer eigenen Auslegung („Exegese“) geben. Die beiden wichtigsten und deutlichsten sind 2.Petrus 1,20-21 und 2.Timotheus 3,16 (vgl. aber auch noch 1.Korinther 2,10-13):

a) 2.Petrus 1,20-21: „... indem ihr dies zuerst wisst, dass alle Weissagung der Schrift nicht aus eigener Deutung geschieht. Denn niemals wurde eine Weissagung durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern, getrieben vom Heiligen Geist, redeten Menschen von Gott her“.
b) 2.Timotheus 3,16: „Jedes Schriftwort/alle Schrift, von Gottes Geist eingehaucht, ist auch nützlich zur Lehre, zur Überführung zur Zurechtweisung, zur Erziehung, ...“

Zwei eminent wichtige Aussagen werden hier gemacht, einmal aus der Feder des Petrus, des ehemaligen Jüngers von Jesus, und einmal aus der Feder des Paulus, des grossen jüdischen Theologen und Apostels von Jesus.
1. Die erste Aussage lautet: Der Inhalt der biblischen Schriften geht nicht auf den Willen von Menschen zurück.
2. Die zweite Aussage lautet: Der Inhalt der biblischen Schriften geht vielmehr auf den Heiligen Geist, und damit auf Gott, zurück.

Entscheidend sind die beiden griechischen Begriffe <hüpo pneumatos hagiou pheromenoi> „getrieben vom Heiligen Geist“ und <theopneustos> „von Gottes Geist eingehaucht“. Auf dieser Grundlage wurde in der Theologie schon zur Zeit der Kirchenväter die Lehre von der sog. „Inspiration“ (lateinisch: „Geisteinhauchung“) der Bibel aufgestellt, wenn auch noch nicht so systematisch wie später insbesondere zur Zeit der Reformation und Orthodoxie (16./17.Jh.). Sie besagt, dass der Heilige Geist, die dritte Person der göttlichen Dreieinigkeit (Trinität) als der eigentliche Autor der Bibel anzusehen ist.

Bei Texten die ein grosses Alter haben, sind Hinweise zum Verständnis bei anderen Schriftstellern aus der Zeit ihrer Entstehung oder kurz danach besonders hilfreich, denn solche Menschen sind von ihrer Denkart her einfach viel näher am Text als wir heute und können ihn deshalb aus seiner Zeit und seiner Entstehungsgeschichte heraus adäquater (= angemessener, entsprechender, übereinstimmender) interpretieren. Deshalb ist es nicht ohne Bedeutung zu sehen, wie die sog. „Kirchenväter“, die christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte, über die Bibel geschrieben haben. Hier einige wenige Muster zum Thema Inspiration: Irenäus (gest. 202) sagte: „Die Schrift ist vollkommen, weil sie von Gottes Wort und seinem Geist gesprochen ist.“ Origenes (gest. 254) schrieb: „Die Heilige Schrift kommt aus der Fülle des Heiligen Geistes, so dass im Gesetz, in den Propheten, im Evangelium oder in den Schriften der Apostel es nichts gibt, das nicht der göttlichen Zustimmung unterliegt.“ Gregor von Nazianz (gest. 309) sagte: „Die kleinsten Linien der Schrift stammen vom Heiligen Geist. Also haben wir die geringsten Schattierungen des Sinnes zu beachten.“ Und Augustin (gest. 430) meinte: „Die ganze Schrift ist mit dem Finger Gottes geschrieben worden, nämlich durch den Heiligen Geist, der die Gottesmänner erfüllte.“

Natürlich haben Menschen die Worte zu Papier gebracht, schriftlich fixiert, aber für den Inhalt ist der Heilige Geist (Gott) verantwortlich, der die Menschen dazu getrieben und inspiriert hat (inspiriert im Sinne von: die Gedanken eingehaucht). Es ist mit der Abfassung der Bibel also ähnlich wie mit Jesus Christus, von dem in den christlichen Bekenntnissen bezeugt wird, dass er gleichzeitig 100% Mensch und 100% Gott war (Zweinaturenlehre). So ist auch die Bibel gleichzeitig 100% Menschenwort (denn jeder der gut 40 verschiedenen biblischen Schriftsteller hat einen von den andern klar unterscheidbaren Schreibstil) und 100% Gotteswort, denn für den Inhalt zeichnet der Heilige Geist verantwortlich.

Wenn die Bibel vom Heiligen Geist inspiriert ist, so ist davon auszugehen, dass sie in allen ihren Passagen inhaltlich wahr ist und auch ohne Widersprüche in sich, denn Gott ist Wahrheit und ohne Widerspruch in sich selbst, im Gegensatz zu uns Menschen. Wäre sie das nicht, so wäre es unmöglich, die Bibel als Grundlage für irgendetwas zu gebrauchen, weil wir nie sicher wüssten, ob das gerade Gelesene nun stimmt oder nicht. Tatsache ist, dass aber noch nie eine archäologische, textkritische oder naturwissenschaftliche Entdeckung gemacht wurde, die die biblischen Texte explizit und zwingend als falsch erweisen würde.

Natürlich gilt die Inspiration streng genommen nur für die Originalschriften der biblischen Bücher (Autographen), die wir bis heute nicht besitzen. Das ist aber nicht weiter schlimm, und auch kein Grund, deswegen an den heutigen Bibelausgaben zu zweifeln, denn die Textkritik zeigt in ganz überwältigender Weise, dass bei der Überlieferung der Texte praktisch keine Fehler passiert sind, die von inhaltlicher Bedeutung sind. Es gibt keinen Text aus der gesamten, weltweiten Antike, der auch nur annähernd mit solcher Qualität und in einer solchen Quantität überliefert worden ist wie der Bibeltext.

Was ergibt sich aus diesen Grundsätzen und Feststellungen nun für die konkreten Regeln der Auslegung?

1. Wenn sich Gott schon die Mühe macht, seinen Willen schriftlich für uns Menschen festzuhalten, so ist davon auszugehen, dass er will, dass wir diese Texte auch verstehen. Um einen Text verstehen zu können, ist davon auszugehen, dass er im Normalfall so, wie er dasteht, zu verstehen ist. Daraus ergibt sich die erste Regel der Interpretation für Texte im Allgemeinen und der Bibel im Besonderen: Ein Text ist so lange grammatikalisch und historisch wörtlich (im Literalsinn) zu verstehen, als nicht zwingende Gründe für eine symbolische Interpretation vorliegen. Ohne dieses Prinzip wäre es unmöglich, beispielsweise eine Zeitung oder ein Geschichtsbuch zu verstehen.
1.a) Ob ein Wort oder ein Satz nicht wörtlich, sondern symbolisch zu verstehen ist, entscheidet sich einerseits am konkreten Umfeld, in dem er steht (Kontext), und andererseits im Vergleich aller Stellen seines Auftretens. Dazu ein Beispiel: Das im Schöpfungsbericht in 1.Mose 1 verwendete hebräische Wort für Tag <yom> kann in der Bibel tatsächlich bisweilen symbolisch gebraucht werden, allerdings (wie die Analyse aller sonstigen Stellen, an denen es vorkommt, zeigt) nie, wenn es durch eine Zahl oder durch die begleitende Formulierung „Abend und Morgen“ näher bestimmt wird, also folglich auch nicht im Schöpfungsbericht.

2. Ein Text sollte, bevor fremde Gedanken an ihn herangetragen werden, immer im eigenen Licht betrachtet werden, aus sich selbst heraus erklärt werden. Dies gilt insbesondere im Falle der Bibel, die als einziges Buch der Welt behauptet, den Heiligen Geist als Autor zu haben, und infolgedessen einzigartig ist. Ein alter Grundsatz der Bibelauslegung lautet deshalb, und das ist die zweite Regel der Interpretation, dass die Bibel sich selbst auslegt. Die Reformatoren prägten diesen Satz: <sacra scriptura sui ipsius interpres> (lateinisch: „Die heilige Schrift ist ihr eigener Ausleger“).
2.a) Um einen bestimmten Abschnitt der Bibel besser zu verstehen, ist es also unsere erste Aufgabe, a) innerhalb der Bibel nach ähnlichen Abschnitten (z.B. gleiche Wortvorkommen) zu suchen, um ein umfassenderes Bild von der Sache zu bekommen (man nehme wieder das Beispiel <yom> von oben), b) und ihn auch in den Gesamtrahmen von allen Büchern des Alten und Neuen Testamentes einzubetten. Wichtig ist dabei, dass die weniger klaren Stellen im Lichte der leichter verständlichen interpretiert werden und nicht umgekehrt.
2.b) Nirgends in der Bibel gibt es einen Hinweis darauf, sie im Sinne einer bestimmten, wahrheitsmässig über ihr stehenden Weltanschauung (z.B. Evolutionstheorie, Humanismus, Dialektik, Marxismus, historisch-kritische Methode, Kirchenlehre, menschliche Vernunft, Naturgesetze) zu interpretieren, wie es heute leider häufig gemacht wird.

Die Lehre von der Inspiration der Bibel bedeutet auch, dass die Bibel als Ganzes Gottes Wort ist. Sie enthält es nicht nur teilweise, sondern sie ist es von der ersten bis zur letzten Seite, also auch dort, wo sie naturwissenschaftliche oder archäologisch relevante Aussagen macht. Deshalb sind insbesondere auch die Kapitel 1-11 von 1.Mose, die die Berichte von der Erschaffung der Welt und des Menschen, von Paradies und Sündenfall und von der Sintflut enthalten, Gottes Wort, das die Wahrheit sagt. Niemand von uns war damals dabei, aber diese Kapitel sind quasi ein Augenzeugenbericht, denn der, der diese Berichte verfasst hat, Gott, ist identisch mit dem, der alles erschaffen hat. Die Bibel enthält nicht menschliche Berichte über menschliche Vorstellungen über Gott oder die Entstehung der Welt, sondern Gott selber zeigt in ihr, wer er ist und wie er alles gemacht hat.

Ebenfalls wichtige Hinweise zum Verständnis eines Textes erhält man aus dem Wissen aus der Biografie des Autors. Je genauer man den Autor kennt, desto eher kann man sich vorstellen, ob eine Interpretation zu seiner Person, seinen Aussagen in anderen Werken, zu seiner Einstellung passt. Der Autor der Bibel ist nach ihrem Selbstzeugnis Gott. In diesen Schriftstücken, entstanden zwischen 1500 v.Chr. und 100 n.Chr., stellt er sich uns Menschen vor. Wir bekommen Informationen über seinen Charakter, über die Art und Weise seines Denkens und Handelns. Dies erlaubt uns in einem gewissen Masse, Rückschlüsse zu ziehen, auf die Art, wie die Texte von der Schöpfung zu verstehen sind. Zum Beispiel berichten die Evangelien, dass Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, Kranke durch das Aussprechen eines einfachen Befehls gesund gemacht hat, kraft seines Wortes. Er steht offensichtlich über den Naturgesetzen und schafft durch das gesprochene Wort materielle Wirklichkeit. Nach dem gleichen Prinzip ging Gott schon bei der Schöpfung vor: er sprach und es geschah (sh. 1.Mose 1). Jesus Christus hat ausserdem das AT inhaltlich immer bestätigt, er hat die Texte des AT, auch 1.Mose 1-11, nie in Frage gestellt oder für ungültig erklärt (Matthäus 5,17-19; 19,3-5; 23,34-35; Lukas 3,37-38), im Gegensatz zu den Interpretationen des Alten Testaments der Theologen seiner Zeit, die er öfters heftig kritisiert hat.

Fazit: Wer die Bibel in ihren Aussagen über sich selbst ernst nimmt und sie nicht absichtlich mit der Brille irgendeiner Ideologie liest, kommt nicht darum herum, sie in allen ihren Teilen als Wahrheit anzuerkennen. Ihr Autor ist der Heilige Geist (Gott). Deshalb braucht sie keine Hilfsmittel, um interpretiert und verstanden zu werden. Sie erklärt sich aus sich selbst heraus. Deshalb sind für uns von ProGenesis auch die Aussagen der Bibel, die naturwissenschaftlichen Fragen betreffen, völlig vertrauenswürdig.

Pfr. Marcel Wildi, lic. theol.


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